Die Werke wahrer Liebe und Barmherzigkeit

In Seiner Weissagung vom Ende warnt Jesus nicht nur: „Falsche Propheten werden in großer Zahl auftreten und viele irreführen“ (Mt. 24,11), sondern er sagt auch: „Weil die Gottlosigkeit überhandnimmt, wird die Liebe bei den meisten erkalten“ (Mt. 24,12).
Zwar wird heute viel von Liebe und Barmherzigkeit gesprochen, doch „da die Gottlosigkeit überhandnimmt“ und viele die Liebe Christi nicht mehr kennen oder anerkennen wollen, wird dabei Wesentliches nicht mehr richtig verstanden oder dargestellt, Wichtiges ausgelassen oder verzerrt, und so wahre Barmherzigkeit und Liebe oft auch nicht mehr wirklich gelebt.
Es ist deshalb sinnvoll, sich die Bedeutung des christlichen Gebotes der Liebe immer wieder neu zu vergegenwärtigen, um nicht Fehlformen oder falschen Einschränkungen von Liebe und Barmherzigkeit nachzugeben oder sich von ihnen bestimmen zu lassen.
Das Maß unseres Tuns soll immer die Liebe Gottes selbst sein
Das Entscheidende bei dieser Bemühung: Jesus erinnert uns immer wieder daran, dass der Urgrund aller Liebe Gott selbst ist und dass wir deshalb unser Verhalten auch am göttlichen Vorbild ausrichten sollen: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist!“ (Lk. 6,36).
Jesus stellt uns hier im Blick auf den Vater vor allem die unbegreifliche, überschwängliche Barmherzigkeit Gottes vor Augen, die aus der Liebe und nicht aus der Berechnung hervorgeht: „Wenn ihr nur denen Gutes tut, die euch Gutes tun, welcher Lohn steht euch zu? Dasselbe tun ja auch die Sünder. Wenn ihr nur denen leiht, von denen ihr etwas zu bekommen hofft, welcher Lohn steht euch zu? Auch die Sünder leihen einander, um das Gleiche dafür wiederzuerhalten. Liebt vielmehr eure Feinde, tut Gutes und leiht, ohne etwas zurückzuerwarten. Dann wird euer Lohn groß sein, und ihr werdet Kinder des Allerhöchsten sein; denn Er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen“ (Lk. 6,35). Liebe ist also ein Wohlwollen, das nicht nur geübt werden soll, um damit für sich selbst Profit herauszuschlagen, sondern das immer das umfassende Heil des Mitmenschen im Auge hat!
Gottes Liebe ist ohne Maß, aber dennoch geordnet
Andererseits muss dieses Wohlwollen auch in den größeren Zusammenhang der umfassenden Güte eingebettet sein, die sich nur in Gott findet. Nur so findet alles die rechte Ordnung. Hieraus ergibt sich, dass die Güte auch wesentlich dem Gebot der Gerechtigkeit verbunden sein muss, ohne die ein bloßes Wohlwollen auch schnell gegen die Vollkommenheit der Liebe verstoßen kann! Wenn eine Mutter nur eines ihrer Kinder „lieben“ wollte und die anderen nicht, so würde sie auch diesem Kind gegenüber nicht wahre Liebe leben, sondern es nur ungerechterweise an sich binden und diesem Kind den Zugang zur Liebe den anderen gegenüber verbauen. Wenn ein Vater seinen Sohn nicht zurechtweist, wenn er Böses anderen gegenüber verübt, dann ist solches angebliche „Wohlwollen“ nicht Liebe, sondern Förderung des Bösen!
Auch bei Gott ist es nicht anders, auch Er kann uns nur Barmherzigkeit erweisen, wenn wir selbst bereit sind, umzukehren, weil Er nicht das Böse fördern und die Gerechtigkeit verletzen kann.
Menschen fällt es aus praktischen (z.B. gefühlsmäßigen) oder theoretischen (z.B. begrifflichen) Gründen oft schwer, Gerechtigkeit und Liebe immer richtig miteinander zu verbinden oder richtig voneinander abzugrenzen. Nur in Gott selbst sind Barmherzigkeit und Gerechtigkeit in letzter Vollkommenheit zueinander in Verbindung gesetzt und geeint. Auch hier kann und soll uns deshalb der Blick auf die Liebe Gottes, die sich uns in Jesus Christus geoffenbart hat, den rechten Weg weisen.
Nur so erkennen wir: Was für uns Menschen auf den ersten Blick vielleicht wie ein Widerspruch aussieht, ist in der Liebe Gottes eine vollkommene Einheit. Ein Widerspruch zwischen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit tritt nur dann auf, wenn man Tugenden, also z.B. „Gerechtigkeit“, ohne die Liebe definieren wollte. In der Liebe und damit in Gott erscheinen diese Tugenden in ihrer Vollkommenheit und somit auch in ihrer vollkommenen Harmonie und Verbindung, in wahrer und umfassender Vollendung.
Auch die seit alters her oft genannten vier menschlichen Grundtugenden der Klugheit, des Maßes, des Starkmuts und der Gerechtigkeit sind nur Tugenden, wenn sie auf die Liebe hin, also auf die höchste Wahrheit, auf Gott selbst, ausgerichtet sind.
„Gerechtigkeit“ und auch „Klugheit“ können im strengen Sinn ohne Anspruch sittlicher Liebe gar nicht gedacht werden, wobei in der Klugheit der Anspruch der Liebe eher auf die theoretische Seite (Liebe zur Wahrheit) der menschlichen Natur bezogen wird, in der Gerechtigkeit mehr auf die praktisch-handelnde. Vor allem in der Gerechtigkeit geht es um die Erfüllung des Willens Gottes, also um die praktische Antwort auf Seine Liebe und damit um die Begegnung mit Gott selbst. Als praktisches und theoretisches Vermögen stehen Gerechtigkeit und Klugheit somit in Wechselwirkung zueinander und müssen die beiden anderen Grundtugenden des Maßhaltens und der Stärke den Forderungen der Liebe anpassen.
Gott hilft uns, dass auch unsere Liebe immer mehr vollkommen werden kann
Dass Jesus wahrhaft vom Vater ausgegangen ist, zeigt Er auch darin, dass Er auch uns in die Vollkommenheit der Liebe Gottes heimholt. Was für uns, die wir Sünder sind, ohne Seine Gnade unmöglich war, das schenkt Er uns in Seinem Heiligen Geist, der uns erleuchtet, stärkt und heiligt.
Und so dürfen und sollen auch wir mitwirken, so sollen auch wir Seine Liebe, die Hoffnung und den Glauben an andere weitergeben, und so ruft Er auch durch uns die Menschen zur Vollkommenheit, die alle menschlichen Vorstellungen weit übersteigt.
Wir können uns von Gott nur beschenken lassen, wenn auch wir bereit sind, andere zu beschenken
In jedem Vaterunser, dem Gebet, das Er selbst uns gelehrt hat, zitieren wir, was die Liebe Gottes auch von uns an Liebe will: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“ (Mt.5,12). Nur wenn wir bereit sind, selbst barmherzig zu sein und zu vergeben, sind wir würdig, auch selbst Barmherzigkeit und Vergebung zu erbitten!
Er zeigt uns, dass Er uns dazu geschaffen hat, dass wir an Seiner Liebe Anteil nehmen, auch dadurch, dass wahrer Gottesdienst nur in Liebe - auch zu unserem Mitmenschen! - denkbar ist. Wie Er sein Leben als Opfer für uns hingegeben hat, um uns zu retten, welches Opfer in jeder heiligen Messe geheimnisvoll gegenwärtig gesetzt wird, so will Er auch von uns, dass wir unser Leben und unsere Liebe teilen, für Gott, aber auch für unsere Nächsten.
Ein „Opfer“ ohne Liebe ist in Wahrheit kein Gottesdienst. Ohne die Liebe in unserem Herzen, also auch ohne wahre Bereitschaft zu Umkehr und Buße, bleibt das Messopfer zwar das Opfer Christi, aber wir berauben uns der Verbindung mit Ihm.
Deshalb betont Jesus: „Wenn du deine Opfergabe zum Altar bringst und dich dort erinnerst, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so lass deine Gabe dort vor dem Altar, geh zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder“ (Mt.5,23f.).
In diesem Sinn sagt Jesus uns sehr deutlich, was auch schon Propheten des Alten Bundes gewusst haben: „Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer“ (Mt.12,7; vgl. Os.6,6). Schon im Alten Bund war klar, dass es vor Gott keine rechte Frömmigkeit – selbst bei strengem Fasten und freiwilligen Kasteiungen – geben kann, wenn man sich der Not des Nächsten verschließt: „Vielmehr ist dies ein Fasten, wie ich es wünsche: Auflösen ruchloser Fesseln, … Unterdrückte frei entlassen, … ferner, dass du dem Hungrigen dein Brot brichst und Arme, Obdachlose in dein Haus führst; wenn du einen Nackten siehst, ihn bekleidest und vor deinem Bruder dich nicht verbirgst! Dann wird hervorbrechen wie Frührot dein Licht … Vor dir wird herziehen deine Gerechtigkeit; die Herrlichkeit des Herrn wird deine Nachhut bilden“ (Is. 58,6ff.).
Gott dienen im Nächsten
Und so ist jedes Werk der Liebe ein Dienst an Gott, auch wenn es dem Mitmenschen und nicht Gott direkt erwiesen wird. Was wir unserem Mitmenschen tun, der ja ebenfalls von Gott geschaffen und von ihm geliebt wird, das tun wir so eigentlich Gott, ohne es vielleicht auch ausdrücklich wahrzunehmen.
Darauf weist uns Jesus sehr klar hin in Seiner Schilderung vom Gericht am Ende der Tage: „Dann werden die Gerechten erwidern: ‚Herr, wann haben wir Dich hungrig gesehen und haben Dir zu essen gegeben, oder durstig und haben Dir zu trinken gegeben?
Wann haben wir Dich als Fremdling gesehen und haben Dich beherbergt, oder nackt und haben Dich bekleidet?
Wann haben wir Dich krank gesehen oder im Gefängnis und sind zu Dir gekommen? Der König wird ihnen antworten: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt.25,37ff.).
Die Verworfenen hingegen hören aus Seinem Mund: „Was ihr einem von diesen Geringsten da nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan“ (Mt.25,45). Auch dies ist bedenkenswert: sie sind offenbar schuldig geworden, nicht, weil sie direkt böse Taten verübt haben, sondern „nur“, weil sie die Not des Nächsten einfach nicht beachtet haben. Auch im Gleichnis vom reichen Prasser wird dies deutlich, der dem armen Lazarus auf den ersten Blick ja nichts Böses tut, ja ihn sogar irgendwie vor seiner eigenen Tür duldet (vgl. Lk. 16,19). Er hat ihm nur nichts Gutes getan und seine eigenen Güter nicht mit ihm geteilt, obwohl er im Überfluss lebte, der Arme aber in bitterster Not!
Die wichtigsten leiblichen und geistlichen Werke der Barmherzigkeit
Die Werke, die Jesus erwähnt und nach denen wir am Ende gerichtet werden, waren für die Christen von Anfang an ein bedeutsames Mittel, die ihnen von Gott geschenkte Barmherzigkeit an andere weiter zu geben. Es war und ist dabei klar, dass sich Liebe und Barmherzigkeit nicht nur auf diese sechs Werke beschränken, sondern diese Werke nur Grundlage und Beispiel für viele Situationen des Lebens sind, in denen andere unsere Hilfe brauchen.
Jeder Christ weiß, dass Liebe nicht bei einzelnen Werken stehen bleiben kann, dass sie den ganzen Menschen mit all seinen leiblichen und geistlichen Nöten im Auge haben muss, ja dass sie sogar über das irdische Leben unserer Mitmenschen hinaus denken und handeln muss. Die Kirche hält uns deswegen auch an, auch für das Seelenheil der Verstorbenen zu beten und für ein würdiges Begräbnis und Andenken auch nach ihrem Tod zu sorgen. Auch das sind noch Liebesdienste unseren Nächsten gegenüber.
Und so hat schon der christliche Schriftsteller und Rhetor Laktanz im 3. Jahrhundert im Hinblick auf die alttestamentliche Erzählung Tob. 1,17 zu den Werken der Barmherzigkeit auch jenes gezählt, für ein Begräbnis der Toten zu sorgen, wobei vor allem an jene gedacht ist, die als Fremdlinge keine eigenen Angehörigen mehr haben und um die wir uns als Christen deshalb besonders kümmern sollten, und sei es nur, dass wir uns für die würdevolle Bestattung ihres schon toten Leibes einsetzen.
Und weil die Kirche weiß, dass die Menschen nicht nur unter leiblichem Hunger und Durst leiden und dass sie nicht nur leiblich krank oder unter Verlassenheit in einem fremden Land hier auf Erden leiden, darum stellte sie neben diese wichtigen Werke leiblicher Barmherzigkeit auch so genannte geistliche Werke der Barmherzigkeit, um daran zu erinnern, dass wir auch diese nicht vergessen dürfen, sind sie doch für das Leben der Menschen am Ende noch bedeutender und entscheidender, auch wenn wir deswegen die leiblichen nicht vernachlässigen dürfen oder die geistlichen und weltlichen gegeneinander ausspielen können.
Werke der Barmherzigkeit waren schon im Alten Bund Kennzeichen für die messianische Zeit, von der Jesus betont hat, dass sie mit Seinem Kommen Wirklichkeit geworden ist (Lk. 4,18). Die Christen wussten also von Anfang an, dass sie, wenn sie sich von Jesus senden lassen, es darum geht, Armen die Frohe Botschaft zu verkünden, Trauernde zu trösten usw., und dass Christus diese Erwartungen nicht nur in einem leiblichen Sinn erfüllt, sondern dass Er sie in einem geistlichen Sinn noch überhöht: Gefangenen die Befreiung zu künden oder Blinden das Augenlicht zu schenken deutet auch die Befreiung von den Sünden und von der geistigen Blindheit an.
Im Namen Christi stellt uns die Kirche deshalb sieben leibliche Werke der Barmherzigkeit vor Augen, wobei sie sich bei den ersten sechs direkt an die Worte Jesu anlehnt (vgl.Mt. 25,35):
- Die Hungrigen speisen.
- Den Durstigen zu trinken geben.
- Fremde aufnehmen und beherbergen.
- Nackte bekleiden.
- Kranke besuchen und pflegen.
- Sich um Gefangene kümmern.
- Tote begraben.
Als geistliche Werke der Barmherzigkeit, die ebenfalls dem Beispiel und Gebot Christi entspringen, werden von der Kirche allgemein genannt:
- Den Zweifelnden recht raten.
- Die Unwissenden lehren.
- Die Sünder zurechtweisen.
- Die Betrübten trösten.
- Beleidigungen verzeihen.
- Die Lästigen geduldig ertragen.
- Für die Lebenden und Verstorbenen beten.
Die rechte Ordnung
Zu allen Zeiten gab es natürlich Diskussionen, wie weit man bei diesen Werken der Barmherzigkeit gehen kann und soll, da der Mensch hier ja immer auch ein Risiko eingeht, entweder sich oder andere überfordern könnte, zu aufdringlich oder zu unaufmerksam sein kann. Auch über diese Dinge kann und muss man natürlich nachdenken, um dem Gebot der Liebe entsprechen zu können.
Wo Menschen aber wirklich die Liebe Christi und die Not des Nächsten in den Mittelpunkt stellen, findet man kaum langatmige theoretische Berechnungen oder ausufernde Diskussionen, weil sie dort gar nicht nötig sind, da ja die Liebe selbst im Gebot Gottes die rechte Ordnung findet und einhält. Man denke nur daran, welch große, ja übermenschliche Aufgaben der Nächstenliebe christliche Orden oder auch einfache Menschen in der Nachfolge Christi vollbracht haben und auch heute noch vollbringen! Liebe hilft, die eigene Kraft möglichst effektiv und zielführend einzusetzen und so auch auf die wirkliche Not und Bedürftigkeit der Mitmenschen hin auszurichten und sinnvoll zu steuern.
Und so wird, wer wirklich liebt, nicht seinen Nächsten in der Not im eigenen Haus oder vor der eigenen Tür im Stich lassen, um nur Fernen zu dienen, er wird nicht nur unpersönlich, sondern auch durch persönliche Zuwendung helfen, er wird nicht nur leiblich, sondern vor allem auch seelischen Beistand leisten, er wird nicht nur blind verteilen, sondern vor allem auch Hilfe zur Selbsthilfe zu geben suchen, und vieles andere mehr, was ihm die recht geordnete Liebe eingibt.
„Nur ein Glaube, der in der Liebe wirksam ist“ (Gal. 5,6), führt zum Heil
Wo sich die Welt von Gott abkehrt, schwindet auch die Bereitschaft zu den Werken der Barmherzigkeit. Umgekehrt, wo noch wirkliche Werke der Barmherzigkeit geübt werden, ist der Zugang zu Gott selbst bei scheinbarer Entfernung von Gott nicht ganz verschüttet, ist noch Hoffnung auf Umkehr zu Gott und somit Rettung möglich.
Das deutet auch Jesus an, der als Kriterium beim letzten Gericht nicht den „Glauben allein“, wie es Protestanten ja meinen, sondern die guten Werke in den Mittelpunkt stellt. Fromme Worte oder „religiöse Übungen“ allein, mit denen sich auch die Pharisäer über ihre Mitmenschen erheben wollten, sind für Gott zu wenig.
Allerdings sind auch „Werke“, wenn sie den Glauben und damit die Liebe zu Gott zurückweisen, keine wirklichen Liebeswerke und in einer solchen Verweigerungshaltung auch nicht das, was Jesus gemeint hat, wenn Er sagt; „ … das habt ihr mir getan“ (Mt. 25,40). Die Stelle von der Belohnung für die guten Werke in Mt. 25 kann letztlich nicht völlig losgelöst von der Notwendigkeit der sakramentalen Gnade und damit auch nicht unabhängig vom anderen Wort Jesu ausgelegt werden, wo Jesus sagt: „Wer glaubt und sich taufen lässt, wird gerettet werden, wer aber nicht glaubt, wird verdammt werden“ (Mk. 16,16).
Schwierigkeiten und ihre Überwindung
Wie leicht der Mensch aber auch bei gut gemeinten Werken daneben greifen kann, wie wenig er oft selbst bei gutem Willen bewirken kann oder wie leicht das Gegenteil von dem, was wir eigentlich gewollt haben, als Ergebnis unseres Handelns am Ende dastehen kann, wissen wir alle. Dennoch gestehen sich wenige Menschen ein, dass wir mehr brauchen als unsere eigene Kraft, wo wirklich Gutes getan werden muss. Viele stützen sich nur auf ihre eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten und scheitern, ohne es manchmal sogar zu bemerken, weil ihr Stolz auf ihrem eigenen Tun ruht, das ihr Wirken vor sich selbst als großartig erscheinen lässt.
Das Tun des Wahren und Guten setzt unsere Umkehr zu Gott voraus, und nur im Gebet und in der Gnade Gottes kann es uns gelingen, wirklich gute Menschen zu werden und auch wirklich Gutes zu vollbringen. Die wahre Liebe als Gebot Gottes kann nur im Heiligen Geist vollkommen gelebt werden.
Bei all unseren Werken, besonders bei den geistlichen, sollen wir uns dessen bewusst sein. Wie sehr kommt es dabei auf ein wirkliches, wahrheitsgemäßes Eingehen auf die Not unserer Mitmenschen an, um ein gutes Werk auch wirklich vollbringen zu können. Mehr als bei den leiblichen Werken muss ich mir hier ein Urteil über die wirkliche Situation, über die wirkliche Not meines Mitmenschen bilden und nach sinnvollen, zweckmäßigen Mitteln suchen, dieser Not zu begegnen.
In vielen Fällen können wir oft gar nichts anderes tun als beten, aber nicht in dem Sinn, dass es „nur“ noch das Gebet gibt, sondern dass wir erfahren, dass das Gebet und damit letztlich Gott selbst die eigentlich treibende und wirkende Kraft ist! Durch das Gebet werden auch wir gestärkt und hellhörig!
Im Heiligen Geist erkennen wir außerdem, dass es zunächst wir selbst sind, die der Barmherzigkeit bedürfen. Bevor wir daran gehen, Zweifelnden zu raten, Unwissende zu lehren, Sünder zurechtzuweisen, Betrübte zu trösten, müssen wir uns selbst von Gott beraten und belehren lassen, müssen wir uns selbst ob unserer Sünden zurechtweisen und zurechtweisen lassen, müssen wir uns selbst unserer Sünden bewusst werden, sie in der Beichte bekennen, uns von Christus von unseren Sünden befreien und uns so von Ihm auch trösten lassen, um dann auch andere trösten zu können.
Nur wenn wir uns bewusst machen, wie oft wir Gott beleidigen, dann können wir auch wahrhaft Beleidigungen verzeihen, die Lästigen geduldig ertragen. Nur dann werden wir auch gerne für die Lebenden und Verstorbenen beten, weil wir wissen, wie auch wir selbst des Gebetes bedürfen.
Liebe muss immer umfassend und vollkommen sein
Gerade heute, da viel von Liebe und Barmherzigkeit gesprochen wird, wollen wir uns bemühen, den umfassenden Charakter von Liebe und Barmherzigkeit nicht aus den Augen zu verlieren. Manche wollen ja nur dann und dort lieben, wo es ihnen persönlich irgendwie „passt“, und scheinen gar nicht zu sehen, dass sie dann gar nicht mehr wirklich lieben.
Andere tun so, als ob Barmherzigkeit sich darin erschöpfe, zu allen Menschen „nett“ zu sein. Gewiss, Liebe muss sich in einer positiven Grundhaltung dem anderen gegenüber offenbaren, die auch erkennbar ist. Aber wer „Liebe“ oder „Barmherzigkeit“ auf äußerliche Sentimentalität oder nur auf einen Teilausschnitt ihres Wesens beschränken will, der macht aus ihr das, was man in der Kunst „Kitsch“ nennt, eine nicht wirklich wahrheitsliebende, von verzerrenden Interessen geleitete Auseinandersetzung oder Darstellung der Wirklichkeit.
In der Kunst hinterlässt das vielleicht keinen guten Eindruck, im wahren Leben aber geht es um Leben und Tod. Wer es versäumt, in bestimmten Situationen auf manche nicht so angenehm zu benennenden Gefahren hinzuweisen, riskiert schon im rein innerweltlichen Bereich, fahrlässig am Tod oder an einem Schaden des Mitmenschen mitschuldig werden zu können.
Erst recht gilt das für das übernatürliche Leben. Sich schon hier im Leben auf einen guten Tod vorzubereiten galt deshalb im Christentum immer als das höchste und wichtigste Werk der Barmherzigkeit. Ein Christ kann deshalb das Evangelium nicht nur so weit verkünden, als es dem Nächsten „angenehm“ erscheint. Die Verkündigung Jesu beginnt mit dem Ruf zur Umkehr (Mk.1,15) und zur Abkehr von der Sünde.
Heute, im Zeitalter von Unmoral und Abtreibungen, von Ehescheidungen und vieler sogenannter wilder Ehen, von Gotteslästerung und Verunehrung selbst in kirchlichen Räumen und „Gottesdiensten“, können z.B. die gottgewollte Ordnung oder die Gebote Gottes nicht einfach verschwiegen oder verkürzt werden. Es ist völlig unangebracht, die Verkündigung des (ganzen) Evangeliums als „unbarmherzig“ zu verschreien, auch wenn die Lösung von falschen, todbringenden oder lieblosen Denkmustern oder Verhaltensweisen nicht immer leicht ist und auch Schmerzen bereiten kann!
Ähnlich ist es in vielen anderen Bereichen des menschlichen Lebens, wo es sehr wohl auch von der Barmherzigkeit gefordert wird, für die Wahrheit einzutreten, auch wenn sie auf den ersten Blick „unbequem“ zu sein scheint! Wo die Sünde und damit auch ihre Folgen regieren und alles in den Tod zu reißen drohen, kann auch die Heilung manchmal nur unter Schmerzen errungen werden, die aber keine Schmerzen der Verzweiflung und der Hoffnungslosigkeit mehr sind, sondern Schmerzen, die Hoffnung, Kräftigung und Heil bewirken! In diesem Sinn sagt auch Jesus, dass wir zwar hier auf Erden auch als Erlöste ein Joch und eine Last tragen, dass dieses Sein Joch jedoch sanft und Seine Bürde leicht ist (vgl. Mt.11,30)!
Die wahre Kirche kann nicht so reden, als ob alle Menschen praktisch im Stande der Gnade lebten, oder als ob sie es mit sich selbst oder - ohne wirkliche Umkehr - ausmachen könnten, ob sie zur Kommunion gehen oder nicht. Eine Ermunterung zum Verharren in der Sünde ist keine Barmherzigkeit, sondern vielmehr höchst unbarmherzig, weil man so Bekehrung und Umkehr unmöglich macht und in die Gefahr einer Verhärtung in der Sünde führt, die jede Umkehr ablehnt und so zum Tod der Seele und schließlich als Sünde gegen den Heiligen Geist zum schrecklichen Verlust des ewigen Lebens führen kann!
Das sei hier nur kurz am Rande erwähnt. In der Nachfolge Christi muss für uns das umfassende Wohl des Mitmenschen das entscheidende Anliegen sein, damit auch sein (ewiges) Heil und wahre Heilung, die immer auch eine Heilung von der Pest der Sünde sein muss, das entscheidende Anliegen sein. Barmherzigkeit und Liebe können sich nicht nur auf einen Teilausschnitt dieses Wohles des Mitmenschen beschränken, sie müssen das Heil so weit wie möglich und in Vollkommenheit suchen, ohne an einer künstlichen Grenze halt zu machen!
Wir sehen also: Barmherzigkeit und Liebe ist nur dort, wo wir das Gute nicht nur begrenzt, sondern umfassend und in Vollkommenheit lieben und anstreben! Jesus selbst ist es nämlich, der sich barmherzig an uns erweist, indem Er nicht nur die irdischen Krankheiten heilt, sondern vor allem die todbringende Last der Sünde für uns getragen hat und in dessen Gnade wir zusammen mit Ihm nun Sünde und Tod überwinden dürfen und sollen!
Zu diesem wahren Leben will Er uns führen und dieses wahre Leben sollte auch den Blick auf die Not unserer Mitmenschen bestimmen, um wahrhaft Gottes Barmherzigkeit, Gottes Heil und Gottes Gnade durch unser Leben und unseren Einsatz für andere wirksam werden zu lassen!

Thomas Ehrenberger

 

 

 

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